Der Auftritt der Bundesregierung vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) im Klageverfahren Nicaraguas wegen Beihilfe zum Völkermord und Verletzungen des humanitären Völkerrechts in Gaza ist ein Lehrstück westlicher Doppelmoral. Die Argumente, die die deutsche Seite in Den Haag zu ihrer Verteidigung vorbringt, strotzen vor Heuchelei.
Weder der Verweis auf die künstliche Unterscheidung zwischen „sonstigen Rüstungsgütern“ und „Kriegswaffen“ noch auf den tendenziellen Rückgang der Rüstungsexportgenehmigungen können die Bedeutung deutscher Waffenhilfen an Israel verschleiern. Laut Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) war Deutschland im vergangenen Jahr mit einem Anteil von 47 Prozent an den israelischen Rüstungsimporten der zweitgrößte Waffenlieferant Israels, dicht hinter den USA mit 53 Prozent. Nach dem 7. Oktober 2023 genehmigte die Bundesregierung auch etwa 3.000 Panzerabwehrwaffen. Ihren möglichen Einsatz im Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung kann sie nicht leugnen.
Ebensowenig versucht die Bundesregierung den Tatsachenvortrag Nicaraguas über die umfangreichen Kriegsverbrechen Israels und die humanitäre Katastrophe in Gaza zu bestreiten. Vielmehr fokussiert sie sich auf das formalistische Argument, dass das Vorliegen eines Völkermords noch nicht festgestellt sei. Daher könne Deutschland nicht der Beihilfe zum Völkermord schuldig gesprochen werden. Damit verkennt die Bundesregierung jedoch die zentrale völkerrechtliche Verpflichtung, die aus der Völkermordkonvention erwächst – nämlich Völkermorde zu verhindern. Das ist umso bedeutender, als der IGH im Fall Südafrika gegen Israel in seiner Entscheidung am 26. Januar Schutzanordnungen getroffen hat, um der von dem Gericht als plausibel angesehenen Gefahr eines Völkermords vorzubeugen.
Die deutsche Vertretung in Den Haag verfestigt damit den Eindruck, dass die Bundesregierung die postulierte Staatsräson, Israel bedingungslos Militärhilfe leisten zu wollen, über internationales Recht stellt. Die bedingungslose Unterstützung Israels durch Deutschland und das führende NATO-Mitglied USA haben den Rahmen dafür geschaffen, dass die in Teilen rechtsextreme israelische Regierung nicht davor zurückschreckte, mit dem Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus eine gefährliche Eskalationsspirale in Gang zu setzen. Es ist verlogen und gefährlich, dass die Bundesregierung, die den israelischen Angriff im Gegensatz zu dem iranischen Gegenschlag nicht verurteilt hat, jetzt kriegsbesoffen ihre Unterstützung Israels bekundet anstatt auf Deeskalation zu setzen. Um einen Flächenbrand im Nahen Osten wie auch ein weiteres Blutbad durch die angekündigte Bodenoffensive Israels in Rafah zu verhindern, müssen Deutschland und der Westen ihre Waffenlieferungen an Israel endlich einstellen und so der Forderung nach einem umgehenden Waffenstillstand Nachdruck verleihen.
Der instrumentelle Umgang des Westens mit dem Völkerrecht und die Komplizenschaft mit Israel bei seinem Krieg in Gaza haben verheerende Auswirkungen, die weit über den gegenwärtigen Konflikt hinausweisen. Mit seiner Doppelmoral befördert der Westen die Erosion von Völkerrecht, Diplomatie und den Vereinten Nationen – und damit zentraler zivilisatorischer Errungenschaften zum Schutz menschlichen Lebens und der Bewahrung des Friedens.
Unsere Autorin ist Mitglied des Deutschen Bundestags und Außenpolitische Sprecherin der Gruppe „Bündnis Sahra Wagenknecht“. Sie nahm als einzige parlamentarische Beobachterin an den Anhörungen im Klageverfahren Nicaraguas gegen Deutschland vor dem IGH teil.